Eine der vielen unbeantworteten Fragen im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie ist die nach der Zahl der asymptomatisch bzw. unerkannt Infizierten und damit nach der wahren Gesamtzahl der Infizierten. Was nämlich in den Statistiken auftaucht, sind lediglich die labordiagnostisch nachgewiesenen Infektionen. Da bisher in der Regel nur symptomatische Patienten getestet wurden, können asymptomatisch Infizierte oder solche, die nicht den Arzt aufsuchen, in die Statistik nicht eingehen. Je mehr im Verlauf der Pandemie auch die präventive Testung asymptomatischer Personen (z. B. von Reiserückkehrern) mit einbezogen wird, desto mehr wird sich die Zahl der labordiagnostisch erfassten Infektionen der tatsächlichen Zahl Infizierter annähern, wenngleich davon auszugehen ist, dass eine erhebliche Dunkelziffer unvermeidbar sein wird. Nicht nur könnte aus der Kenntnis der Zahl der Infizierten die tatsächliche Letalität der Infektion abgeleitet werden, sondern sie wäre auch entscheidend für die Frage der Lockerung der antiepidemischen Maßnahmen. Je näher man sich nämlich der sogenannten Herdimmunität nähert, die mit ca. 60-70 % angegeben wird, desto geringer sind die Chancen des Virus, noch empfängliche menschliche Wirte zu finden, die infiziert werden können, und desto mehr könnten die sozialen Distanzierungsmaßnahmen abgebaut werden. Auch könnte es für die Beurteilung der Wirksamkeit antiepidemischer Maßnahmen von großer Bedeutung sein, wenn man wüsste, welche Rolle die asymptomatisch Infizierten in der Übertragungsdynamik spielen.
Weltweit wurde daher die Notwendigkeit erkannt, möglichst rasch eine Antwort auf diese Frage zu finden. Mittel der Wahl dafür sind epidemiologische Studien, mit deren Hilfe man einen repräsentativen Anteil der Allgemeinbevölkerung auf Antikörper gegen SARS-CoV-2 untersucht. Die WHO hat Mindestanforderungen an solche seroepidemiologischen Studien definiert. Entscheidend ist dabei, dass die Stichprobe ausreichend groß und wirklich repräsentativ ist, damit ein Rückschluss auf die Gesamtbevölkerung möglich ist, und ebenso entscheidend ist, dass die verwendeten Antikörpertests spezifisch sind und nicht durch kreuzreaktive Antikörper, die zum Beispiel durch Infektionen mit anderen Coronaviren hervorgerufen wurden, beeinflusst werden. Hinzu kommt, dass lokal gemessene Werte kaum auf die Population überregionaler Gebiete übertragbar sein dürften, da die Übertragungsdynamik von zahlreichen Faktoren abhängig ist, die sich regional sehr stark unterscheiden dürften. Auch kann nicht automatisch davon ausgegangen werden, dass nachgewiesene Antikörper auch im Sinne von bestehender Immunität interpretiert werden können. Eine Reihe solcher Studien wurden bereits in mehreren Ländern initiiert und veröffentlichte Ergebnisse sind inzwischen bereits verfügbar.
Die „Heinsberg-Studie“ und vergleichbare Studien: Was sie aussagen
Schlagzeilen gemacht hat hierzulande die sogenannte Heinsberg-Studie. Erstmalig gibt es nun wissenschaftlich fundierte Daten zur Zahl der Infizierten in einem Hotspot, wobei auch diejenigen Personen ermittelt wurden, die nicht in die offiziellen Fallstatistiken eingeflossen sind, weil sie entweder keine Symptome hatten oder bei denen aus anderen Gründen keine Diagnostik durchgeführt wurde. Die Studie ist fundiert und berücksichtigt mögliche Schwachstellen, z. B. die Leistungsdaten (insbesondere die Spezifität) des verwendeten Antikörpertests bzw. mögliche Verzerrungen in der Testkollektivauswahl durch entsprechende Korrekturfaktoren. Die Daten besitzen daher hohe Aussagekraft. Es wurde eine Stichprobe von 919 Probanden mit vollständig auswertbaren Datensätzen untersucht. Alle stammten aus der Gemeinde Gangelt in Nordrhein-Westfalen, die sich nach dem Karneval zu einem der ersten Hotspots von COVID-19 in Deutschland entwickelt hatte. Und das sind die wesentlichen Ergebnisse:
- 15,5 % der untersuchten Probanden hatten Antikörper gegen SARS-CoV-2 oder wurden in der PCR positiv auf das Virus getestet. Das sind rund fünfmal mehr als die offiziell in der Gemeinde gemeldeten Infektionsfälle (3,1%).
- 22,2 % der positiv getesteten Probanden hatten keinerlei Symptome einer COVID-19-Infektion.
- Hieraus ergibt sich eine auf die Zahl der Infizierten bezogene Todesfallrate von 0,37 %.
- Alter und Geschlecht wiesen lauten den Autoren keine Assoziation zur Infektionsrate auf (Daten nicht gezeigt). Hingegen wies die Teilnahme an Karnevalsveranstaltungen eine hochsignifikante Assoziation mit einer COVID-19-Infektion auf.
Für einen Zwei-Personen-Haushalt mit einer infizierten Person wurde das Infektionsrisiko der zweiten Person mit 43,6 % ermittelt. Es lag damit knapp dreimal höher als das allgemeine Infektionsrisiko in der Gemeinde.
Kommentar: Das Ergebnis der Studie spiegelt die Verhältnisse in einem Hotspot der COVID-19-Infektion wieder und kann daher nicht verallgemeinert oder eins zu eins auf andere Orte in Deutschland übertragen werden. In einem Hotspot dürfte die erhöhte Aufmerksamkeit für das Infektionsgeschehen zu einer vergleichsweise hohen Untersuchungs- und Erkennungsrate geführt haben. Die Zahl der unerkannten Infektionen dürfte daher außerhalb solcher Hotspots eher noch höher sein. Es war aber richtig, einen Hotspot für diese Untersuchung auszuwählen, denn die Testspezifika des eingesetzten Antikörpertests lassen einen akzeptabel hohen Vorhersagewert des Tests nur zu, wenn die Prävalenz spezifischer Antikörper in der Testpopulation relativ hoch ist. Insoweit sagt die gefundene Infektionsrate aus, dass mit einer vielfach (5-10fach) höheren Zahl Infizierter zu rechnen ist, als aus den offiziellen Statistiken hervorgeht. Die Autoren gehen davon aus, dass bei einer Übertragung ihrer Daten auf ganz Deutschland in einem theoretischen Modell die Zahl der Infizierten derzeit ca. 1,8 Millionen betragen dürfte. Was bei den Studiendaten allerdings verwundert, ist die fehlende Alters-Assoziation, die bisher regelmäßig aus den offiziellen Statistiken hervorgeht. Bestätigt hat sich, dass ein erheblicher Anteil der Infektionen ohne Symptome verläuft. Die Assoziation mit der Teilnahme am Karneval weist übrigens auf die Bedeutung des anfangs unterschätzten aerogenen Übertragungswegs hin.
Ähnliche öffentliche Aufmerksamkeit erlangte eine Studie der Stanford-University in Los Angeles County, deren vorläufige Ergebnisse ebenfalls durch lokale Public-Health-Offizielle vorgestellt wurden (https://www.dailynews.com/2020/04/20/l-a-county-may-have-had-40-times-more-coronavirus-cases-that-officially-counted-researchers-contend/). Eine wissenschaftlich nachprüfbare Publikation der Daten liegt aber noch nicht vor. Bei zwischen 2,8 % und 5,6 % der getesteten Bevölkerungsstichproben sollen Antikörper gegen SARS-CoV-2 nachweisbar gewesen sein. Demnach soll die Zahl der tatsächlich Infizierten bis zu 55mal höher sein, als aus den offiziellen Zahlen zu entnehmen. Dabei ist allerdings anzumerken, dass in den USA bisher sehr viel restriktiver getestet wurde als in Deutschland, da nicht ausreichend Tests verfügbar waren. Die Aussagen korrelieren annähernd mit bereits zuvor bekanntgegebenen Befunden aus Santa Clara County, wo man eine Durchseuchung der Bevölkerung von 2,5 % bis 4,2 % festgestellt hatte, was 50-80 mal höhere Zahlen Infizierter implizierte als offiziell bekannt. Beide Studien wurden aufgrund ihrer Methodik wissenschaftlich heftig kritisiert.
Weitere Verlautbarungen gab es aus New York, wo in einem Stichprobenumfang von 3.000 Personen 14 % der Probanden Antikörper gegen SARS-CoV-2 gehabt haben sollen, in Genf wurden bei einer Stichprobe von 760 Probanden positive Antikörper-Nachweise bei 5,5 % gefunden.
Fazit: Es gibt eine zunehmende Evidenz, dass die Anzahl der bereits mit SARS-CoV-2 Infizierten um ein Vielfaches höher ist, als aus den offiziellen Statistiken hervorgeht. Dementsprechend ist die Letalität deutlich niedriger als bisher anhand der laborbestätigten Fälle berechnet. Sie dürfte am Ende deutlich unter 1 % liegen. Es bleibt allerdings abzuwarten, wie sich die Daten konsolidieren und was dann am Ende noch in seriösen wissenschaftlichen Veröffentlichungen Bestand hat.
Von der Herdenimmunität weit entfernt: Erste landesweite Untersuchung auf SARS-CoV-2-Antikörper im Hotspot-Land Spanien
Eine spanische Forschergruppe hat in der Fachzeitschrift Lancet die erste landesweite Untersuchung zur Prävalenz von Antikörpern gegen SARS-CoV-2 in der Durchschnittsbevölkerung veröffentlicht (https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(20)31483-5/fulltext). Das Ergebnis ist bedeutsam, da es Antworten auf wichtige Fragen der künftigen Präventionsstrategie gibt: In welchem Umfang hat sich die Allgemeinbevölkerung im Rahmen der Pandemie bisher infiziert? Besteht regional/überregional eine Herdenimmunität? In welchem Umfang wurden die Infektionen durch die Diagnostik-Angebote erfasst? Welcher Anteil der Infektionen verlief asymptomatisch?
In die groß angelegte sogenannte ENE-COVID-Studie wurden spanienweit über 35.000 zufällig ausgewählte Haushalte aufgenommen. Der Umfang der Stichprobe wurde nach der Größe der jeweiligen Provinzen und Städte stratifiziert. Von über 100.000 Personen, die in den ausgewählten Haushalten leben, erfüllten schließlich 51.958 die Voraussetzungen zur Aufnahme in die Studie. Alle Probanden füllten Fragebögen aus und wurden mithilfe eines Point-of-Care-Tests (POC; Sensitivität für IgG-Antikörper ca. 82 %) sowie eines zusätzlichen Immuno-Assays auf Chemilumineszenz-Basis (Sensitivität: 90-100 %; Spezifität 99,6-100 %) auf Antikörper gegen SARS- CoV-2 getestet. Wesentliche Ergebnisse der Studie:
- Die durchschnittliche Seroprävalenz in ganz Spanien betrug mit dem POC-Test 5,0 %, mit dem Chemilumineszenz-Test 4,6 % (beide Tests positiv 3,7 %, nur einer der beiden Test positiv 6,2 %).
- Unter 195 Probanden, die mehr als 14 Tage vor der Antikörper-Testung einen positiven PCR-Test hatten, betrug die Sensitivität der Antikörpertests zwischen 87,6 % (beide Tests positiv) und 91,8 % (nur einer der beiden Tests positiv).
- Die Seroprävalenz war regional unterschiedlich und reichte von <3 % (Küstenregionen) bis >10 % (Madrid).
- Über 1/3 der positiv getesteten Probanden, hatte in der Vorgeschichte keine COVID-19-typischen Symptome.
- Nur 19,5 % der Probanden, die über COVID-19-typische Symptome berichtet hatten, hatten jemals einen PCR-Test erhalten.
Die Studie zeigt, dass ein Großteil der spanischen Bevölkerung selbst in Hotspots der Pandemie noch immer seronegativ ist, d.h. keine Antikörper gegen das Virus aufweist, obwohl Spanien zu den von der Pandemie am meisten getroffenen Ländern gehört. Eine Herdenimmunität hat sich nirgendwo ausgebildet, und der Großteil der Bevölkerung ist nach wie vor empfänglich für eine Infektion mit SARS-CoV-2. Dies weist darauf hin, dass antiepidemische Präventionsmaßnahmen weiterhin erforderlich sind, um die Ausbreitung des Virus zu unterbinden. Trotz der auch in Spanien aufgebauten Diagnostik-Kapazität zeigte sich, dass nur bei ca. einem Fünftel der Infizierten das etablierte diagnostische Verfahren (PCR) eingesetzt worden war. Ein Großteil der Infektionen wurde daher diagnostisch nicht erkannt und tauchte in den offiziellen Statistiken niemals auf, weil die Betroffenen keine Symptome aufwiesen, keinen Arzt konsultierten oder die PCR-Diagnostik nicht veranlasst wurde. Nicht alle Probanden, die eine PCR-bestätigte SARS-CoV-2-Infektion hatten, wiesen danach auch messbare Antikörperspiegel auf. Es ist davon auszugehen, dass mithilfe der derzeit etablierten Antikörpertests daher nicht alle SARS-CoV-2-Infektionen erfasst werden.