Bereits zu Beginn der Pandemie haben wir darauf hingewiesen, dass die Rolle der Aerosole bei der Übertragung von SARS-CoV-2 möglicherweise unterschätzt wird (siehe: „Mund-/Nasenschutz – Was dafür spricht“). Doch manchmal dauert es eben etwas länger, bis sich Erkenntnisse und Erfahrungen durchsetzen, die bereits vor Jahrzehnten gewonnen wurden, und manchmal muss das Rad sogar neu erfunden werden. Jedenfalls bedurfte es erst neuer experimenteller Untersuchungen, bevor bei den Meinungsbildnern ein Umdenken einsetzte und die Tagespresse als neue Erkenntnis feierte, was doch schon so lange bekannt ist: dass nämlich beim Husten, Niesen und Sprechen zahlreiche Tröpfchenkerne gebildet werden, die stundenlang in der Raumluft schweben und als Transportvehikel für SARS-CoV-2 dienen können.
Insbesondere in der Phase der Lockerung der Lockdown-Maßnahmen kommt es darauf an, durch alternative Präventionsmaßnahmen die Übertragung von SARS-CoV-2 bestmöglich zu unterbrechen. Schon bei der Bekämpfung der Influenza-Pandemie 1918 hatte sich gezeigt, dass es auf die Wirksamkeit dieser Präventionsmaßnahmen ankommt, hatten doch in den USA Städte, die aggressivere Maßnahmen implementiert hatten, signifikant niedrigere Mortalitätsraten als andere. Der bisherige Konsens hinsichtlich der Übertragung von SARS-CoV-2 ging davon aus, dass sich das Virus über respiratorische Tröpfchen von Mensch zu Mensch und durch Kontakt mit kontaminierten Oberflächen ausbreitet. Das Händewaschen mit Seife, das Einhalten von Hygieneregeln beim Niesen und Husten sowie das Abstandhalten von mindestens 1,5 m zwischen Personen sind die Eckpunkte der empfohlenen Präventionsmaßnahmen. Inzwischen kam die allgemeine Pflicht zum Tragen einer Mund-/Nasenbedeckung beim Einkaufen und in öffentlichen Transportmitteln hinzu. Trotzdem konnten solche Maßnahmen die Übertragungen nicht vollständig stoppen und in manchen Ländern, in denen ein Lockdown zunächst nicht oder zu spät verhängt wurden, kam es trotz der genannten Maßnahmen zur einer exponentiellen Zunahme der Fallzahlen. Das zeigte sich auch im Fall des Kreuzfahrtschiffs Diamond Princess, auf dem nach einer 14-tägigen Kreuzfahrt 10 Passagiere positiv auf SARS-CoV-2 getestet worden waren. Daraufhin wurde das Schiff für 14 Tage vor der Küste Japans unter Quarantäne gestellt, was trotz implementierter sozialer Distanzierungsmaßnahmen und von Maßnahmen zur Verhinderung der Übertragung durch Tröpfchen nach weiteren 2 Wochen zu insgesamt 634 Infektionsfällen unter den 3.711 Passagieren führte. All dies sprach – neben den allgemeinen wissenschaftlichen Erkenntnissen und Erfahrungen zur Übertragung respiratorischer Infektionen – dafür, dass es neben den angenommenen Übertragungswegen noch weitere wirksame Transmissionsmechanismen geben muss. Aufgrund der vorhandenen Daten können wir annehmen, dass Aerosole, die Infektionserreger transportieren können, beim Husten und Niesen, in geringerem Umfang aber auch beim Sprechen, beim Singen oder auch nur beim forcierten Atmen, etwa beim Sport, freigesetzt werden. Ebenso wissen wir, dass SARS-CoV-2 unter Umweltbedingungen viele Stunden stabil bleiben kann. Überdies besitzt es eine viel höhere ACE-2-Rezeptor-Bindefähigkeit als das SARS-CoV von 2002/3 und möglicherweise sind dadurch bei SARS-CoV-2 geringere Infektionsdosen erforderlich. Und schließlich ist bekannt, dass bei COVID-19 im Bereich der oberen Luftwege schon vor dem Auftreten klinischer Symptome sehr hohe Viruskonzentrationen vorhanden sein können. Dies alles spricht schon theoretisch für die Möglichkeit einer wirksamen Übertragung auch auf dem Aerosol-Weg.
Die Bedeutung dieses Übertragungswegs wird durch neue wissenschaftliche Daten weiter untermauert. So berichten van Doremalen et al (https://www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMc2004973) im New England Journal of Medicine ihre neuesten Daten zur Stabilität von SARS-CoV-2 in Tröpfchenkernen sowie auf verschiedenen Oberflächen. In artifiziell erzeugten Virus-beladenen Mikrotröpfchen (<5 µm) konnte vermehrungsfähiges Virus über Stunden nachgewiesen werden, wenngleich die Virusmenge in den Tröpfchen kontinuierlich abnahm und zwar mit einer Halbwertszeit von 1,1 Stunden (95 %-Konfidenzintervall 0,64-2,64 Stunden). Ähnliche Ergebnisse fanden sie auch für SARS-CoV-1 (SARS-CoV von 2002/3). Auf Kunststoff- und Edelstahloberflächen überlebte das Virus bis zu 72 Stunden, auf Kupferoberflächen war nach 4 Stunden kein lebendes Virus mehr nachweisbar. Die Autoren schließen aus ihren Daten, dass eine Übertragung von SARS-CoV-2 sowohl über Aerosole als auch über kontaminierte Oberflächen möglich ist. Mit Hilfe einer hochsensitiven Laserstreulicht-Vorrichtung testeten Stadnytskyi et al. den Ausstoß von Tröpfchen beim normalen Sprechen (https://www.pnas.org/content/117/22/11875). Dazu ließen sie einen Probanden 25 Sekunden lang den Satz „Stay healthy“ wiederholen und sammelten und vermaßen die dadurch entstehenden Tröpfchen in einer speziellen Vorrichtung. Im Ergebnis schätzen die Autoren, dass beim lauten Sprechen pro Minute mindestens 1.000 Tröpfchen entstehen, die für mindestens 8 Minuten in der Luft bleiben und von anderen Personen eingeatmet werden können. Die entstehenden Tröpfchenkerne sind so klein, dass sie bis in die Lungenalveolen gelangen können. COVID-19-Patienten können unterschiedliche Viruskonzentrationen im Speichel aufweisen, in jedem Fall sind sie aber so hoch, dass beim Sprechen ohne Weiteres über 100.000 Viren pro Minute ausgestoßen werden können.
Im Vorabdruck eines Beitrags zur Fachzeitschrift Emerging Infectious Diseases berichten die chinesischen Autoren Lu et al. über einen COVID-19-Ausbruch, der seinen Ausgangspunkt in einem klimatisierten Restaurant in Guangzhou hatte (https://wwwnc.cdc.gov/eid/article/26/7/20-0764_article?mod=article_inline). Am 24. Januar hatte der aus Wuhan angereiste Indexpatient, der zu diesem Zeitpunkt mit SARS-CoV-2 infiziert war, aber erst später Symptome entwickelte, zusammen mit vier Mitgliedern seiner Familie in dem Restaurant ein Mittagessen eingenommen. Zwei weitere Familien saßen an den Nachbartischen. Bis zum 5. Februar waren 9 weitere Restaurantbesucher (alle, die mit dem Indexpatienten am gleichen Tisch saßen, sowie jeweils 3 bzw. 2 Personen, die an den Nachbartischen gesessen hatten) erkrankt. Die Personen an den Nachbartischen hatten sich für jeweils 53 bzw. 73 Minuten zeitgleich mit dem Indexpatienten im Restaurant aufgehalten. Der Abstand zum Indexpatienten hatte die ganze Zeit über mehr als 1,5 m betragen. Insgesamt hatten an diesem Tag 83 Personen auf dem gleichen Stockwerk des Restaurants an insgesamt 15 Tischen gegessen, darüber hinaus waren 8 Restaurant-Bedienstete auf der Etage zugegen. Außerhalb des Clusters von 10 Personen erkrankte jedoch niemand. Die Autoren schließen aus ihren Daten, dass die Übertragung am ehesten durch Aerosole zu erklären sei, die durch die Strömung der Klimaanlage innerhalb des Raumes zu den Nachbartischen getragen worden seien.
Fazit: SARS-CoV-2 wird durch Aerosole effektiv übertragen
Dass SARS-CoV-2 auch über Aerosole übertragen werden kann, daran kann nach aller Erfahrung kaum ein Zweifel bestehen. Dies jedoch wissenschaftlich zu beweisen, ist äußerst aufwändig und dauert lange. Die Daten, die mittlerweile vorliegen, sind zwar auch kein ultimativer Beweis, denn zu viele Parameter fließen hier mit ein, aber sie bieten doch so viel Evidenz, dass man nicht abwarten sollte, bis der Verlauf der Pandemie die wissenschaftliche Streitfrage klärt. Es sollte daher bei der Planung präventiver Maßnahmen von der Aerosol-Übertragung des Virus als einem wirksamen Transmissionsmechanismus ausgegangen werden. Für geschlossene Räume sollten durchaus Präventionsmaßnahmen in Betracht gezogen werden, die über die bisher implementierten hinausgehen. So könnte sich in Restaurants der Abstand von 1,5 m als zu gering erweisen, die Luftströmung von Klimaanlagen sollte bedacht werden. Ggf. sind sie abzuschalten und durch Fensterlüftung zu ersetzen. Im Sommer empfiehlt es sich, bei Restaurantbesuchen einen Platz im Freien zu nutzen. Je nach Funktion des betreffenden Raumes könnte eine raumlufttechnische Anlage mit Absaugung der Raumluft nach außen sinnvoll sein. Ebenso sollten Maßnahmen zur raschen Dekontamination von Aerosolen mit bedacht werden (z. B. UVC-Fernlicht oder Filtereinrichtungen).