Wie SARS-CoV-2 krank macht

Zu Kapitel 10.2 · Foto: Pexels

Die Tatsache, dass so vielen Patienten durch Zufuhr von Sauerstoff mithilfe mechanischer Beatmung nicht geholfen werden kann, wirft Fragen hinsichtlich der zugrundeliegenden krankmachenden Mechanismen (Pathomechanismen) auf. In diesem Zusammenhang fällt eine Häufung von Berichten auf, dass bei COVID-19-Patienten Störungen der Blutgerinnung mit Bildung von Thrombosen sowie daraus resultierenden Lungenembolien, Herzinfarkten und Schlaganfällen beobachtet werden (https://www.washingtonpost.com/health/2020/04/24/strokes-coronavirus-young-patients/). Solche Ereignisse betreffen häufig jüngere Patienten, bei denen die Virusinfektion ansonsten relativ symptomarm verläuft. Manche Zentren in den USA sind alarmiert und berichten darüber, dass sie in ihren Notfallaufnahmen zwei- bis viermal so viele Schlaganfälle sehen wie normal. Das Geschehen ist oft ungewöhnlich fulminant, betrifft die großen Arterien, und sogar in Venen wird Gerinnselbildung beobachtet. Zwar gab es bisher schon vereinzelte Berichte über vermehrte Blutgerinnselbildung bei hospitalisierten COVID-19-Patienten (z. B. Lodigiani et al., Thrombozyt Research, 2020 [https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/32353746/]), jedoch geben die neuen Beobachtungen dem Geschehen eine andere Qualität. Es ist bekannt, dass es bei Pneumonien unabhängig vom Erreger zu einer verstärkten Gerinnungsaktivität im Blut und zur Thrombosebildung kommen kann, jedoch sprechen die Fallschilderungen bei jüngeren, nicht hospitalisierten Patienten für ein direkt durch SARS-CoV-2 getriggertes Geschehen. Aus der Tatsache, dass sich auch auf den Endothelzellen der Gefäßinnenwände ACE-2-Rezeptoren befinden, die durch das Virus blockiert werden, könnte sich eine Erklärung ergeben. Die Ausschaltung von ACE-2, einem Angiotensin-II-Antagonisten, durch das Virus führt zur ungebremsten Einwirkung von Angiotensin II auf die Gefäßwände mit der Folge des sogenannten oxidativen Stresses, der wiederum zur Schädigung des Gefäßendothels, Entzündung und Freisetzung gerinnungsaktivierender Substanzen aus der Gefäßwand ins Blut führt. Möglicherweise sind die massive Endothelschädigung und die sich daraus ergebenden Folgen neben der Schädigung der Lungenzellen ein zweiter Treiber des Krankheitsgeschehens und auch eine Erklärung für das häufige Versagen der Beatmungstherapie. Auf alle Fälle bedarf die Gerinnungsaktivität bei COVID-19-Patienten der Aufmerksamkeit, z.B. durch Überwachung bestimmter Marker, wie der D-Dimer-Konzentration im Blut. Auch sind begleitende gerinnungshemmende therapeutische Maßnahmen indiziert.

COVID-19: Lungenkrankheit, Systemkrankheit des Gefäßendothels und mehr

Der Verlauf der Pandemie zeigt immer deutlicher, dass es sich bei COVID-19 nicht nur um eine Lungenkrankheit handelt, sondern dass eine Vielzahl scheinbar unabhängiger Krankheitsmanifestationen vorkommen. Neben den Lungen können zahlreiche Organe und Gewebe betroffen sein. Dabei kann das Vorkommen des ACE-2-Rezeptors auf zahlreichen Zelltypen dafür verantwortlich sein, dass diese Zellen durch SARS-CoV-2 infiziert werden. Aber auch die Systemerkrankung des Gefäßendothels mit den oben beschriebenen Folgen des oxidativen Stresses und der Blutgerinnungsstörung trägt erheblich zur Symptomatik bei. Aus Studien in den Niederlanden und in Frankreich wird berichtet, dass Blutgerinnsel bei 20 bis 30 % der kritisch kranken COVID-19-Patienten gefunden werden. Die feingewebliche Morphologie (Histopathologie) der atypischen Pneumonie unterscheidet sich dementsprechend bei COVID-19 von derjenigen bei der Influenza. Neben den Schädigungen des Lungenepithels, die beiden gemeinsam ist, findet man bei COVID-19 zusätzlich eine ausgeprägte Schädigung des Gefäßendothels, weitverbreitete Thrombosen in den Lungengefäßen, sowie Mikrothromben in den feinen Alveolarkapillaren. Die genannten Pathomechanismen erzeugen ein buntes Symptombild, das über das im Vordergrund stehende ARDS (Acute Respiratory Distress Syndrome) weit hinausreicht und mit der starken Zunahme der Fallzahlen im Verlauf der Pandemie immer deutlicher wurde. So können pulmonale Thromboembolien und Lungeninfarkte ebenso zum klinischen Bild gehören wie Myokarditis, akutes Nierenversagen oder Durchfall (ca. 11 % der Fälle) als Zeichen der Virusvermehrung im Darm. Auch neurologische Manifestationen, wie die häufig vorkommenden Symptome Kopfschmerzen (ca. 11-14 % der Fälle) oder Geruchs-/​Geschmacksverlust (ca. 30-88 % der Fälle), sind typisch, vor allem bei milden Verläufen und in der frühen Phase. Einschränkungen des Geruchs- und Geschmackssinns bilden sich meist innerhalb von zwei Wochen nach Abklingen der Erkrankung wieder zurück. Es ist davon auszugehen, dass die Symptome durch eine direkte Invasion des Virus in die entsprechenden Hirnnerven ausgelöst werden, da sie auch unabhängig von einer sonstigen Beteiligung der oberen Luftwege (Rhinitis, Pharyngitis) vorkommen. Schlaganfälle werden hingegen seltener und eher bei kritisch kranken Patienten gesehen, bei denen stark erhöhte D-Dimer-Spiegel auf eine Gerinnungsstörung hinweisen. Die Häufigkeitsangaben für die diversen Manifestationen schwanken zwischen den verschiedenen Studien und Berichten über Fallserien erheblich. Coronaviren haben überdies ein neuroinvasives Potential, wie zum Beispiel für SARS-CoV und MERS-CoV anhand von Fallberichten und tierexperimentellen Studien belegt wurde. Da der ACE-2-Rezeptor auch im Zentralen Nervensystem vorkommt, ist ein Befall des Gehirns durch SARS-CoV-2 grundsätzlich denkbar. Dies wurde nun erstmals durch eine Arbeitsgruppe der Johns-Hopkins-Universität (Baltimore, USA) experimentell nachgewiesen. Die entsprechende Publikation befindet sich im Review-Prozess. Laut einer Pressemitteilung der Johns-Hopkins-Universität (https://www.ft.com/content/e5f20455-4422-4eea-9c51-b083040a0878) ist es den Wissenschaftlern gelungen, aus Stammzellen gezüchtete sogenannte Mini-Brains mit SARS-CoV-2 zu infizieren. Die Viren infizierten Neuronen über den ACE-2-Rezeptor und vermehrten sich darin. Innerhalb von drei Tagen hatte sich die Zahl der Viruskopien mindestens verzehnfacht. Dazu passen Fallberichte über das Auftreten einer Encephalitis im Zusammenhang mit COVID-19. Aber damit sind die COVID-19 zugeschriebenen Krankheitsmanifestationen noch nicht erschöpft. Auch über verschiedene Hautmanifestationen wird berichtet, darunter der sogenannte „COVID-Zeh“, an den Akren (Zehen, aber auch Fingern) auftretende schmerzhafte „Frostbeulen“-ähnliche, bläulich-rötliche Schwellungen, die vornehmlich bei jüngeren Infizierten gesehen werden. Auch ein Krankheitsbild, das dem seltenen Kawasaki-Syndrom ähnelt, wurde im Zusammenhang mit einer SARS-CoV-2-Infektion beobachtet, und zwar bei Kindern, von denen man bisher annahm, dass sie von COVID-19 weitgehend verschont blieben. Beim Kawasaki-Syndrom handelt es sich um ein ursächlich unklares, vermutlich immunologisch ausgelöstes Krankheitsbild, das auf einer Entzündung von Blutgefäßen (Vaskulitis) im Körper beruht. Es geht mit Fieber, Ausschlag und einer typischen „Erdbeerzunge“ einher.

Eine Ursache für das Entdecken immer neuer Manifestationen von COVID-19 ist sicher die hohe Zahl von mehr als vier Millionen Fällen, die mittlerweile weltweit bekannt sind, was auch seltenere Symptome zutage treten lässt, die man als Komplikationen möglicherweise auch bei anderen Infektionskrankheiten beobachten könnte, wenn die Fallzahlen nur groß genug wären.