Spätestens seit in Österreich im März 2020 eine Mundschutztragepflicht für alle beim Einkaufen in Supermärkten eingeführt wurde, entwickelte sich auch hierzulande eine Diskussion darüber. Wochenlang hatten die Meinungsbildner in Deutschland, die regelmäßig mit Empfehlungen an die Öffentlichkeit treten, das Tragen eines Mundschutzes als nutzlos oder gar kontraproduktiv dargestellt. Richtigerweise wurde dabei darauf verwiesen, dass man sich selbst am effektivsten mithilfe der zertifizierten FFP2- oder FFP3-Masken (FFP = Filtering Face Piece) davor schützen kann, das Virus bzw. Virus-beladene Tröpfchen über den Respirationstrakt aufzunehmen. Solche Masken waren zu Beginn der Pandemie im Gesundheitswesen Mangelware und werden vorwiegend in den Behandlungseinrichtungen zum Eigenschutz des Personals benötigt. Die einfachen Mund-/Nasenschutze, wie sie in der Chirurgie benutzt werden, liegen hingegen nicht eng am Gesicht an, so dass die Luft seitlich am Mundschutz vorbeiströmen kann. Immerhin wurde anerkannt, dass solche Mund-/Nasenschutze einen gewissen Schutz für andere bieten, wenn Infizierte sie tragen, da sie die beim Husten, Niesen und Sprechen ausgeschiedenen größeren Tröpfchen zurückhalten können. Infizierten wird daher das Tragen eines solchen Mundschutzes empfohlen. Das war auch die Position des RKI, das sich noch bis ins späte Frühjahr nicht zu einer weitergehenden Empfehlung durchringen konnte. Es befand sich damit im Einklang mit der WHO, die ebenfalls das generelle Tragen von Mundschutzen in der Öffentlichkeit zunächst ablehnte (siehe z. B. WHO Situation Report Nr. 66, s. u.).
Aber wer weiß schon, ob er infiziert ist oder nicht? Immer mehr stellte sich heraus, dass ein großer Teil der Infektionen asymptomatisch verläuft bzw. Infizierte schon Tage vor der Erkrankung das Virus in großer Menge über den Rachen ausscheiden können. Ganz abgesehen davon, dass jemand, der wissentlich infiziert ist, der Öffentlichkeit ohnedies fernbleiben sollte.
Eine Mund-/Nasenschutz-Tragepflicht für alle hingegen würde dazu führen, dass jede Person, d. h. auch die unwissentlich Infizierten, zum Schutz der anderen beiträgt. Und das könnte dann doch einen enormen Effekt haben. Zumindest glauben Wissenschaftler in Hongkong, dass die allgemeine Mund-/Nasenschutz-Tragepflicht einen wesentlichen Beitrag zur Eindämmung der Covid19-Epidemie in der Stadt geleistet hat.
Das Ergreifen weitergehender Schutzmaßnahmen zur Verhinderung einer Übertragung des Virus durch Tröpfchen steigt mit der Bedeutung, die diesem Infektionsweg zukommt. Es ist in diesem Zusammenhang erstaunlich, wie sehr die Übertragung durch Tröpfchen und Aerosole zunächst unterschätzt wurde. So berichtete das WHO-Expertenteam, das unter Leitung von Bruce Aylward am Anfang des Ausbruchs die Situation in China untersucht hatte, dass man keine Hinweise für eine wesentliche Rolle des aerogenen Übertragungswegs gefunden hätte. Konsequenterweise wurde zu Beginn der Pandemie die Kontaktübertragung ganz in den Vordergrund gestellt und folglich das Händewaschen als wichtigste präventive Maßnahme propagiert. Das widerspricht allerdings jahrzehntelangen Erfahrungen zur Übertragung von Erregern, die respiratorische Infektionen auslösen.
Die Diskussion darüber wurde initial durch eine Veröffentlichung im New England Journal of Medicine (van Doremalen et al., New England Journal of Medicine, 2020 [https://www.nejm.org/doi/full/10.1056/nejmc2004973]) neu entfacht. Die Autoren hatten experimentell die Stabilität der SARS-CoV-1 und -2 Coronaviren auf diversen Oberflächen und in Aerosolen untersucht und dabei festgestellt, dass die Erreger in Abhängigkeit von der Oberfläche noch Stunden nach der Ausbringung vital sind. In einem Aerosol halbierte sich die Anzahl lebensfähiger Viren innerhalb von etwas mehr als 1 Stunde. Dazu nahm die WHO in ihrem Situation Report Nr. 66 Stellung (https://www.who.int/docs/default-source/coronaviruse/situation-reports/20200326-sitrep-66-covid-19.pdf). Sie kritisierte, dass in der betreffenden Veröffentlichung die Aerosole maschinell erzeugt worden seien, was den natürlichen Verhältnissen nicht entspreche.
„In all other contexts, available evidence indicates that COVID-19 virus is transmitted during close contact through respiratory droplets (such as coughing) and by fomites. The virus can spread directly from person to person when a COVID-19 case coughs or exhales producing droplets that reach the nose, mouth or eyes of another person. Alternatively, as the droplets are too heavy to be airborne, they land on objects and surfaces surrounding the person. Other people become infected with COVID-19 by touching these contaminated objects or surfaces, then touching their eyes, nose or mouth. According to the currently available evidence, transmission through smaller droplet nuclei (airborne transmission) that propagate through air at distances longer than 1 meter is limited to aerosol generating procedures during clinical care of COVID-19 patients.”
Allerdings lehren die Erfahrung und einschlägige wissenschaftliche Untersuchungen, die bereits Jahrzehnte alt sind, etwas anderes. Als Beispiele mögen zwei ältere Publikationen aus den Jahren 1945 (!) und 1966 dienen (Duguid, Edinburgh Medical Journal, 1945 [https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC5286249/]; Gerone et al., Bacteriological Reviews, 1966 [https://apps.dtic.mil/sti/pdfs/AD0642469.pdf]). Die Arbeiten basierten auf den zu ihrer Zeit verfügbaren experimentellen Methoden, wobei die Methodik der 1966 veröffentlichten Arbeit aus einem Forschungsinstitut der US-Streitkräfte bereits apparativ sehr aufwendig war. Beide Arbeiten hatten gezeigt, was nunmehr seit Jahrzehnten Lehrmeinung ist, die Medizinstudenten in der Hygiene und Infektiologie vermittelt wird: Sowohl beim Husten als auch – in noch größerem Ausmaß – beim Niesen, in geringerem Umfang auch beim Sprechen, werden Tröpfchen unterschiedlicher Größe ausgestoßen. Die größeren davon sinken relativ schnell zu Boden. Entscheidend ist aber, dass insbesondere beim Niesen und Husten auch eine große Zahl kleiner, sogenannter Tröpfchenkerne in einer Größe von 1-10 µm freigesetzt werden, die die Eigenschaft haben, dass sie stundenlang in der Raumluft schweben können. Diese können sowohl Bakterien als auch Viren transportieren, was durch entsprechende Messungen nachgewiesen wurde. Es handelt sich dabei um längst anerkanntes Lehrwissen, und es gibt keinen Grund, warum dies bei SARS-CoV-2 anders sein sollte als bei anderen respiratorisch übertragenen Viren, zumal die Viruslast im Rachen bei einigen SARS-CoV-2-Infizierten besonders hoch zu sein scheint.
All dies spricht dafür, alle Maßnahmen zu ergreifen, die dazu geeignet sind, den Ausstoß von Tröpfchen und Aerosolen bei Infizierten, einschließlich der asymptomatisch Infizierten, zu reduzieren. Eine Mund-/Nasenschutz-Tragepflicht für alle in der Öffentlichkeit könnte nach dieser Logik daher ein wirksamer Beitrag sein, erst recht aber, wenn es darum geht, die Ausgangsbeschränkungen des Lockdowns durch wirksame Alternativmaßnahmen zu ersetzen.
Experimentelle Evidenz für die Effektivität von Mund-/Nasenschutzen (hinzugefügt am 09.04.2020)
Ma et al. veröffentlichten im J. of Medical Virology (https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1002/jmv.25805) einen interessanten Beitrag zur Rückhaltefähigkeit verschiedener Maskentypen (Masken nach N95-Standard, entspricht ungefähr FFP2 [a]; medizinische Masken (Mund-/Nasenschutz) [b]; selbsthergestellte Maken aus vierlagigem Küchenpapier und Stoff [c]). In einem experimentellen Ansatz wurde eine Virussuspension (Modellvirus: gering pathogener Geflügel-Influenzavirus-Stamm) maschinell vernebelt, wodurch ein Aerosol mit einer durchschnittlichen Tröpfchengröße von 3,9 µm erzielt wurde, und der Durchtritt von Virus durch die verschiedenen Materialen wurde unter Simulation von Atemhüben in einer Modellanordnung getestet.
Die Masken konnten dabei 99.98 % [a], 97.14 % [b], bzw. 95.15 % [c] der in den Aerosolen enthaltenen Viren zurückhalten. In der gleichen Studie zeigten die Autoren, dass sofortiges Händewaschen mit Wasser und (1%) Seife 98,36 % der auf die Handfläche aufgebrachten und für 3 Minuten dort belassenen Viruslast entfernen konnte. Die Autoren schlagen das Tragen medizinischer Masken (Mund-/Nasenschutze) in Verbindung mit sofortiger (unmittelbar nach potentieller Exposition) Händehygiene als sinnvolle Maßnahmen gegen die exponentielle Ausbreitung der COVID-19-Pandemie vor. Die Studie bietet weitere experimentelle Evidenz für das bereits in zahlreichen Ländern praktizierte Tragen von Mund-/Nasenschutzen (medizinische Masken).
Eine Studie aus Südkorea (Seongman et al., Ann. Int. Med, 2020 [https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC7153751/]) berichtet über Untersuchungen zur Effektivität von Masken bei vier COVID-19-Patienten. Diese mussten in die verschiedenen Maskentypen hineinhusten, während im Abstand von 20 cm davor eine Petrischale mit Virustransportmedium platziert wurde. Im Gegensatz zu Ma et al. kommen diese Autoren zum Schluss, weder medizinische Masken, noch Baumwollmasken könnten einen effektiven Beitrag zur Verhütung der Virusausbreitung leisten.
Das Vorsorgeprinzip spricht im Zweifelsfall für das Tragen von Mund-/Nasenschutzen (hinzugefügt am 15.04.2020)
Das British Medical Journal veröffentlichte am 9.4.2020 einen Analysebeitrag von Trisha Greenhalgh et al. (https://www.bmj.com/content/369/bmj.m1435) zum Thema des Tragens von Schutzmasken in der Öffentlichkeit, den wir aus zweierlei Gründen für beachtenswert halten. Zum einen haben sich die Autoren mit dem gesamten Für und Wider einer solchen Maßnahme anhand der in dem Beitrag zitierten Schlüsselliteratur intensiv auseinandergesetzt. Zum anderen kommen sie aber auch zu einer Schlussfolgerung bzw. Empfehlung, nämlich der, in dieser wissenschaftlich ungelösten Frage dem ethischen „Precautionary Principle“, also dem Vorsorgeprinzip zu folgen und das Tragen von Masken in der Öffentlichkeit zu empfehlen, auch wenn der Effekt möglicherweise nur gering ist, denn ein Abwarten des wissenschaftlichen Beweises der Wirksamkeit verbiete sich in der jetzigen Lage.
Wenn auch der Beitrag in seinem Grundtenor überzeugend ist, so vermeiden die Autoren doch eine Festlegung auf die Art der Schutzmasken, die empfohlen werden sollen, und sie sprechen nicht von einer Pflicht, sondern nur von „encourage“, wenn es darum geht, welche Maßnahmen die Verantwortlichen veranlassen sollen. Hier ist allerdings einzuwenden, dass das Tragen von einfachen Mund-/Nasenschutzen, die nun in regierungsamtlichen Verlautbarungen auch als „Alltagsmasken“ bezeichnet werden, in der Öffentlichkeit seine volle Effektivität nur entfalten kann, wenn es alle tun, was durch eine Tragepflicht am besten sichergestellt werden könnte. Wenn es um zertifizierte Schutzmasken zum Eigenschutz geht, würde eine Empfehlung genügen. Aber Letzteres dürfte in Deutschland augenblicklich wegen der Verfügbarkeits-Situation gar nicht in Frage kommen.
Kommentar: Mund-/Nasenschutze – Vieles spricht dafür
Das Thema bleibt bis zum heutigen Tag heftig umstritten, obwohl es inzwischen weit mehr Evidenz für die Wirksamkeit des Tragens von Mund-/Nasenschutzen gibt, als dagegen. Die wissenschaftliche Beweisführung mag vielleicht einige Zweifler mehr überzeugen als der bloße Hinweis darauf, dass Hongkong und andere Länder, wo das Tragen von Schutzmasken von Anfang an konsequent implementiert wurde, viel weniger COVID-19-Fälle und eine viel geringere Mortalität an COVID-19 berichteten, als etwa die USA oder Europa. In Hongkong betrug die Compliance der Bevölkerung hinsichtlich des Tragens von Mund-/Nasenschutzen in der Öffentlichkeit deutlich über 95 %. In einer epidemiologischen Aufarbeitung (Chi-Chung Cheng et al., J. Infect, 2020 [https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/32335167/]) der dortigen COVID-19-Fälle in den ersten 100 Tagen der Epidemie fanden sich 11 Cluster mit 113 Fällen, die an Aktivitäten beteiligt waren, bei denen keine Masken getragen wurden (Essen und Trinken in einem Restaurant oder einer Bar, Karaoke-Singen oder Fitness-Studios). Nur 3 Cluster mit 11 Personen hatten sich vermutlich bei Aktivitäten infiziert, bei denen üblicherweise Masken getragen wurden (Arbeitsplatz). Der Unterschied war statistisch signifikant.
Da es sich um eine Schutzmaßnahme für andere handelt, bietet sie den erhofften Schutz allerdings nur, wenn alle in der Öffentlichkeit, insbesondere dort, wo viele Menschen in geschlossenen Räumen zusammenkommen, z. B. beim Einkaufen oder in öffentlichen Verkehrsmitteln, auch einen Mund-/Nasenschutz tragen. Was die bisherigen Studien nicht berücksichtigten und in solchen Studiendesigns auch schwer zu berücksichtigen ist, ist die Flugweite der die Masken penetrierenden Tröpfchen, deren Fähigkeit länger in der Raumluft zu schweben und die Überlebensfähigkeit des Virus darin. Lediglich Tröpfchenkerne mit einer Größe von 1-10 µm besitzen die letztgenannten Eigenschaften. Es kommt daher darauf an, dass der Ausstoß dieser Tröpfchen durch die Masken möglichst reduziert wird, ebenso die Emission größerer Tröpfchen, die zwar schnell zu Boden fallen, aber dem Gegenüber direkt ins Gesicht fliegen können.
Die Hamster-Studie zur Wirksamkeit von Mund-/Nasenschutzen
An sich waren wir der Meinung, das Schutzmaskenthema bereits ausreichend behandelt zu haben. Die Evidenz sprach von Anfang an für den Einsatz von Masken. Mit der Einführung der Pflicht zum Tragen von Mund-/Nasenschutzen in manchen öffentlichen Bereichen wurde dem, wenn auch verspätet, Rechnung getragen. Doch nun erleben wir eine wachsende Gegenbewegung gegen die von der Regierung verordneten Präventionsmaßnahmen, bis hin zur offenen Ablehnung der Hygieneregeln einschließlich des Tragens von Schutzmasken. Daher wollen wir gern noch ein paar neue Argumente beitragen. Kwok-Yung Yuen von der Universität Hongkong berichtete im Mai im Rahmen einer Pressekonferenz über die Ergebnisse seiner jüngsten Experimente zur Wirksamkeit von Schutzmasken anhand des von ihm für Studien zur Transmission, Pathogenese, Behandlung und Prävention von SARS-CoV-2 etablierten Hamster-Modells (https://afludiary.blogspot.com/2020/05/hku-surgical-mask-hamster-study.html). Die Ergebnisse der Studie sind inzwischen auch publiziert (https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC7314229/). Der als Modell verwendete syrische Goldhamster entwickelt nach Infektion mit SARS-CoV-2 die typischen COVID-Symptome, stirbt aber nicht daran. Wenn nichtinfizierte Hamster einem Luftstrom aus einem Käfig mit infizierten Hamstern ausgesetzt wurden, infizierten sich 10 von 15 Tieren (66 %) innerhalb einer Expositionsdauer von 7 Tagen mit SARS-CoV-2. Wenn eine chirurgische Maske (Mund-Nasenschutz) am Luftauslass des Käfigs mit den infizierten Tieren platziert wurde, reduzierte sich die Zahl der nichtinfizierten Hamster, die infiziert wurden, auf 16,6 % (2 von 12). Wenn ein solcher Mund-/Nasenschutz am Lufteinlass des Käfigs mit den nichtinfizierten Tieren platziert wurde, infizierten sich 33,3 % (4 von 12) der Tiere.
Kommentar des Wissenschaftlers zu seinen Ergebnissen:
„In unserem Hamster-Experiment konnten wir klar zeigen, dass infizierte Hamster bzw. Menschen andere schützen, wenn sie Mund-/Nasenschutze (chirurgische Masken) benutzen. Die Transmission kann um 50% reduziert werden, insbesondere wenn infizierte Individuen die Masken tragen.“