Über­sterb­lich­keit durch COVID-19

Zu Kapitel 10.3 · Foto: Pexels

Immer wieder hört man in diesen Tagen in der aufkeimenden Debatte um den Sinn der Eindämmungsmaßnahmen das Argument, die durch COVID-19 zu erwartenden Todesfälle wären vermutlich in der Mortalitäts-Statistik nicht einmal aufgefallen. Auch wird behauptet, die Zahl der Todesfälle durch COVID-19 wiege nicht die Zahl der durch die Lockdown-Maßnahmen indirekt verursachten Todesfälle (z. B. durch versäumte Operationen oder Vorsorgeuntersuchungen) auf, der durch die Maßnahmen verursachte Schaden sei also größer als der Nutzen. Freilich liegen solchen Debatten fiktive Annahmen zugrunde, denn weder ist die Zahl der Todesfälle bekannt, die ein ungebremster Verlauf der Epidemie gekostet hätte, und erst recht gibt es keine seriösen Zahlen zu den vermuteten indirekten Todesfallzahlen. Vergessen wird auch häufig bei solchen Vergleichen, dass ein Zusammenbruch des Gesundheitssystems unter der Last eines ungebremsten Verlaufs der Pandemie mindestens die gleichen Kollateralschäden bei Patienten mit anderen Diagnosen verursacht hätte. Wie auch immer: Sowohl das eine wie auch das andere sollte sich in den Mortalitäts-Statistiken beim Vergleich mit den durchschnittlichen Zahlen von „normalen“ Jahren als Übersterblichkeit (Exzess-Mortalität) bemerkbar machen. Wie sich die COVID-19-Pandemie diesbezüglich niederschlägt, lässt sich in Ländern beobachten, in denen es nicht wie in Deutschland gelungen ist, den Verlauf der Epidemie frühzeitig zu mitigieren. Hierzu gibt es nun erste Daten zu Italien, dem Land, das neben Spanien innerhalb Europas am schwersten getroffen wurde (Magnani et al., International Journal of Environmental Research and Public Health, 2020 [https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/32429172/]). Der erste COVID-19-Fall in Italien war am 20. Februar in Nordwest-Italien aufgetreten. Der weitere Verlauf hatte zunächst die Lombardei und die Nachbarregionen Venezien und Emilia-Romagna betroffen und sich dann auf alle Regionen Italiens ausgeweitet. Am 29. April gab es 199.470 Labor-bestätigte Fälle mit 25.215 Todesfällen. Die durchschnittliche Todesfallrate betrug zu diesem Zeitpunkt 12,6 %, bei Männern und bei älteren Personen war sie höher. Die Datenauswertung beruhte auf Daten des italienischen Nationalen Instituts für Statistik. Sie betraf den Zeitraum bis zum 15. April 2020. Als Vergleichsdaten wurden die Zahlen für den Zeitraum 2015-2019 herangezogen. Insgesamt umfasste der Datensatz 4.433 Städte und Gemeinden (über 50 % der italienischen Städte und Gemeinden) und repräsentierte eine Bevölkerung von 34,5 Millionen Einwohnern aus allen italienischen Regionen. Im Schnitt umfassten die Daten 57,2 % der jeweiligen Bevölkerung. Die in der Studie inkludierten Städte und Gemeinden waren im Hinblick auf die Gesamtbevölkerung der betreffenden Region im Hinblick auf die Geschlechtsverteilung und den Anteil von Personen über 60 Jahren repräsentativ. Auch die Zahl der Todesfälle im Zusammenhang mit COVID-19 wurde Regionen-spezifisch einbezogen, wobei jeder Todesfall, bei dem eine positive PCR auf SARS-CoV-2 vorlag, als COVID-19-Todesfall gewertet wurde, unabhängig von anderen präexistenten Diagnosen. Die Studie zeigte einen deutlichen Anstieg der Mortalität im Zeitraum vom 1. März bis zum 15. April 2020 im Verhältnis zum Vergleichszeitraum, während in den Vormonaten kein signifikanter Unterschied zu den Vorjahresdurchschnitten beobachtet wurde. Für ganz Italien wurde aus den Daten eine Übersterblichkeit von 45.032 zusätzlichen Todesfällen in diesem Zeitraum ermittelt. Das waren doppelt so viele Fälle, wie tatsächlich aufgrund vorliegender Laborbestätigung als COVID-19-Fälle bestätigt waren. Damit war die Gesamt-Todesfallrate im Durchschnitt Italiens um den Faktor 1,55 höher als im Durchschnitt der Vorjahre. Regionen im Norden und im Zentrum Italiens waren überdurchschnittlich betroffen. Im zeitlichen Verlauf folgte die Übersterblichkeit kongruent dem Verlauf der COVID-19-spezifischen Mortalität, was den direkten Zusammenhang untermauert. Die Differenz zur tatsächlich festgestellten Zahl an COVID-19-Todesfällen kann durch eine erhebliche Dunkelziffer aufgrund unzureichender Testung bedingt sein, möglicherweise aber auch durch Todesfälle an anderen medizinischen Diagnosen, die aufgrund der Einschränkungen in der Gesundheitsversorgung durch die Überlastung des Gesundheitswesens zustande kamen.