Schon seit Beginn der Corona-Pandemie wird die Frage diskutiert, ob Vitamin D einen Einfluss auf die Erkrankungswahrscheinlichkeit oder die Schwere des Verlaufs von COVID-19 haben kann. Dabei berief man sich zunächst auf Daten zum Einfluss von Vitamin D auf andere Infektionskrankheiten. Bereits seit mehr als hundert Jahren wird ein Zusammenhang zwischen Vitamin-D-Mangel und einer erhöhten Infektionsanfälligkeit vermutet. Auch die saisonale Häufung infektiöser Atemwegserkrankungen in den Wintermonaten wurde mit der in dieser Jahreszeit durch fehlende Sonnenlichtexposition verminderte körpereigene Produktion von Vitamin D in Zusammenhang gebracht. Vitamin D hat keinen direkten Effekt auf Viren, seine mögliche Rolle bei Infektionskrankheiten wird vielmehr abgeleitet aus seinem Einfluss auf das angeborene und adaptive Immunsystem. Auch kann es entzündliche Prozesse unterdrücken. Eine Übersicht von Gruber-Bzura fasst zum Beispiel die bisher vorhandenen und teilweise kontroversen Daten im Hinblick auf seine potenzielle Rolle bei der Prävention der Influenza zusammen (Gruber-Bzura, International Journal of Molecular Sciences, 2018 [https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC6121423/]). Die Autorin kommt zu dem Schluss, dass eine präventive Wirkung möglich sei, dass es aber letztlich größerer kontrollierter Studien bedürfe um die Wirksamkeit zu beweisen.
Aus etlichen Beobachtungsstudien ist bekannt, dass niedrige Vitamin-D-Spiegel mit einer erhöhten Empfänglichkeit für respiratorische Infektionen einhergehen. Ob die Supplementierung mit Vitamin D einen protektiven Effekt hat, ist hingegen umstritten. Einige klinische Studien konnten einen protektiven Effekt bestätigen, andere wiederum nicht. Eine internationale Metaanalyse von 25 kontrollierten randomisierten Studien mit insgesamt über 11.000 Teilnehmern, die 2017 im British Medical Journal publiziert wurde (Martineau et al., BMJ, 2017 [https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC5310969/]), konnte schließlich überzeugend zeigen, dass die Vitamin-D-Supplementierung gegen akute respiratorische Infektionen schützen kann. Die Besonderheit bei dieser Metaanalyse war, dass sie nicht einfach die Gesamtergebnisse der einzelnen untersuchten Studien mittelte, sondern die Auswertung auf die Datensätze der einzelnen Teilnehmer herunterbrach. Der Senior-Autor, Carlos Camargos vom Massachusetts General Hospital, sagte der Harvard Gazette zum Ergebnis: „Our analysis … found that it [Vitamin D] helps the body fight acute respiratory infection, which is responsible for millions of deaths globally each year.” Den größten Nutzen hatte die tägliche bzw. wöchentliche Supplementierung von Vitamin D, während aus einer gelegentlichen Hochdosis-Supplementierung kein Nutzen resultierte.
Im Zusammenhang damit, dass ein erheblicher Prozentsatz der europäischen Bevölkerung insbesondere in den Wintermonaten zu niedrige Vitamin-D-Spiegel aufweist, kann eine regelmäßige Supplementierung von Vitamin D also durchaus eine sinnvolle Präventionsmaßnahme gegen respiratorische Infektionen sein.
Neue Studien zu Viramin D und COVID-19
Inzwischen liegt eine Reihe von Studien vor, die spezifisch den möglichen Zusammenhang zwischen Vitamin-D-Spiegel und der Wahrscheinlichkeit einer COVID-19-Erkrankung adressieren. In einem Länder-Vergleich der Mortalität an COVID-19 fällt auf, dass die Länder südlich des 35. nördlichen Breitengrads eine vergleichsweise niedrige Mortalität an COVID-19 aufweisen. Hieraus wurde ein möglicher Einfluss des Vitamin-D-Spiegels auf die COVID-19-Mortalität abgeleitet, da nördlich des 35. Breitengrads das Sonnenlicht nicht ausreicht um eine genügende natürliche Vitamin-D-Produktion in der Haut zu induzieren (Rhodes et al, Aliment. Pharmacol. Ther. 2020). Ausnahmen, wie zum Beispiel in Finnland, wurden damit erklärt, dass dort die Vitamin-D-Supplementierung sehr verbreitet ist. Eine Studie von Ilie et al. (https://rdcu.be/ccong) verglich die mittleren Vitamin-D-Spiegel der Bevölkerungen von 20 europäischen Ländern mit den jeweiligen Erkrankungs- und Mortalitätsraten für COVID-19 und fanden eine statistisch signifikante negative Korrelation. Besonders niedrige Vitamin-D-Spiegel wurden in den älteren Bevölkerungsschichten Spaniens, Italiens und der Schweiz gefunden. Weitere Studien legten eine Korrelation zwischen dem Vitamin-D-Spiegel und der Wahrscheinlichkeit einer SARS-CoV-2-Infektion nahe. In der Schweiz hatten Patienten eines Krankenhauses, die eine positive SARS-CoV-2-PCR aufwiesen, im Vergleich zu PCR-negativen Patienten einen statistisch signifikant niedrigeren Vitamin-D-Spiegel. In Israel wurden aus einer über 14.000 Probanden umfassenden Kohorte von Personen, die einen Labortest auf SARS-CoV-2 gemacht hatten, diejenigen ausgewählt, von denen ein früher (vor dem möglichen Infektionszeitpunkt) bestimmter Vitamin-D-Spiegel bekannt war. Unter 7.807 Personen mit bekanntem Vitamin-D-Spiegel befanden sich 782 Personen mit einem positiven COVID-19-Labortest, die übrigen waren negativ. Die positiv Getesteten hatten statistisch signifikant niedrigere Vitamin-D-Spiegel als die negativ Getesteten (Low plasma 25(OH) vitamin D level is associated with increased risk of COVID‐19 infection: an Israeli population‐based study (nih.gov)). In dieser Studie hatten Personen mit einem Vitamin-D-Spiegel unter 30 ng/ml gegenüber der nach Alter, Demographie und Begleiterkrankungen abgeglichenen Vergleichsgruppe mit einem Vitamin D-Spiegel über 30ng/ml ein 1,45fach erhöhtes Risiko an einer SARS-CoV-2-Infektion zu erkranken und ein fast zweifach erhöhtes Risiko der Hospitalisierung aufgrund einer SARS-CoV-2-Infektion. Da die Vitamin-D-Spiegel in dieser Studie vor dem möglichen Infektionszeitpunkt bestimmt worden waren, kann hier nicht der häufig gehörte Einwand gemacht werden, erniedrigte Vitamin-D-Spiegel seien nicht die Ursache, sondern die Folge der Infektion gewesen. In einer retrospektiven Beobachtungsstudie eines großen US-Labors wurde die Assoziation zwischen dem Ergebnis eines Labortests auf SARS-CoV-2 mit Ergebnissen zurückliegender Vitamin-D-Spiegel-Bestimmungen bei mehr als 190.000 Personen untersucht. Auch hier fand sich eine starke Korrelation zwischen einem erniedrigten Vitamin-D-Spiegel und einem positiven SARS-CoV-2-Labortest, und zwar unabhängig von Hautfarbe, Geschlecht und Alter (SARS-CoV-2 positivity rates associated with circulating 25-hydroxyvitamin D levels (plos.org)). Weitere Studien bei hospitalisierten COVID-19-Patienten fanden eine statistisch signifikante Korrelation zwischen einem erniedrigten Vitamin-D-Spiegel und erhöhtem Beatmungsbedarf, einer erhöhten, prognostisch relevanten D-Dimer-Konzentration bzw. einer geringeren Überlebensrate. In einer spanischen randomisierten Doppelblind Pilotstudie wurde bei COVID-19-Patienten der Effekt der zusätzlichen Gabe von hydroxyliertem Vitamin D versus der kliniküblichen Standardtherapie auf den Verlauf der Erkrankung untersucht. Im Ergebnis brauchten die mit Vitamin D behandelten Patienten statistisch signifikant weniger häufig eine Intensivbehandlung und hatten einen weniger schweren Verlauf “ (Effect of calcifediol treatment and best available therapy versus best available therapy on intensive care unit admission and mortality among patients hospitalized for COVID-19: A pilot randomized clinical study” (nih.gov)).
Fazit: Es gibt eine starke, in zahlreichen Studien bestätigte Korrelation zwischen einem erniedrigten Vitamin-D-Spiegel und der Wahrscheinlichkeit an COVID-19 zu erkranken oder daran zu sterben. Ob dieser Korrelation auch eine ursächliche Wirkungsbeziehung zugrunde liegt, können solche Studien nicht klären, aber es liegt nahe. Dafür sprechen auch klinische Daten, die zu belegen scheinen, dass Vitamin D einen positiven Einfluss auf den Krankheitsverlauf hat. Allerdings sind die Fallzahlen in entsprechenden Studien noch vergleichsweise niedrig. Jedenfalls gibt es aus unserer Sicht bei erniedrigtem Vitamin-D-Spiegel für die Supplementierung von Vitamin D (Nahrungsergänzung) als präventive Maßnahme eine sehr gute Evidenz. Erniedrigte Vitamin-D-Spiegel unter 30 ng/ml sind bei uns wie in anderen europäischen Ländern weit verbreitet und betreffen einen erheblichen Prozentsatz der Bevölkerung. In der Altersgruppe über 80 Jahre, einer Hauptrisikogruppe für COVID-19, haben bis zu 90% einen Vitamin-D-Spiegel unter 20ng/ml.